Es kommt immer Euro raus!

Es kommt immer Euro raus!

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Mathematik ist, wenn man das Einmaleins und das Einspluseins flüssig beherrscht und entsprechend schnell und sicher zu den Matheaufgaben im Schulbuch die geforderten Ergebnisse produzieren kann.

Diesen Eindruck könnte man erhalten, wenn man den Aufbau einiger Schulbücher und den gemäß dieser Schulbücher gestalteten Unterricht betrachtet. Das ist allerdings ein riesiger Irrtum. Mathematik ist anders, als die anderen Schulfächer. Die pure Reproduktion von Unterrichtsverläufen bringt keinen nachhaltigen Erfolg. Ebenso wenig lässt sich Mathematik auswendig lernen. Wenn man nicht darin geschult wird, den „Denk-Modus“ einzuschalten, logische Rückschlüsse aus vorgegebenen Szenarien zu schließen und die gewonnenen Erkenntnisse zu neuen Zusammenhängen zu kombinieren, bekommt man früher oder später Schwierigkeiten. „Übung macht den Meister“, gilt in der Mathematik nur, wenn man zuvor verstanden hat, was man da eigentlich übt.

Milena, obwohl positiv auf Dyskalkulie getestet, musste Anfang der 3.Klasse die gleichen Klassenarbeiten schreiben und wurde ebenso benotet, wie ihre Mitschüler. Einen Nachteilsausgleich lehnte die Lehrerin strikt ab, mit der Begründung, man müsse ja nur das Einmaleins auswendig lernen, um bei der Lernstandüberprüfung zu bestehen. Dass ich mit Milena gerade erst den Zahlenraum bis 10 neu aufbaute und die Basisoperationen erst im Ansatz besprochen hatte, interessierte die Lehrerin nicht. Also wurde in der Schule und zu Hause gepaukt und gepaukt. Die Einmaleins-Reihen wurden wie Gedichte auswendig gelernt, ohne dass Milena überhaupt den Zweck des Malnehmens verstanden hätte. Sie beherrschte die Reihen nach einiger Zeit dann doch recht gut aber trotzdem: In ihrer ersten benoteten Arbeit kassierte sie eine 5, denn in der Arbeit waren die Aufgaben ausschließlich als Rechengeschichten formuliert. Ein Drama für Milena. Eine der Aufgaben war die folgende, die ich auf Wunsch der Mutter mit Milena zu lösen versuchte:

„Die Mutter hat 3 leere Flaschen. In jede Flasche möchte sie 2 Liter von ihrem selbstgemachten Kirschsaft füllen. Wie lautet die passende Frage, wie rechnest du und wie ist die Antwort.“

Worte über Worte. Milenas erste Teilaufgabe hieß, einen Fragesatz zu schreiben. Aber sie hatte sich doch nicht für eine Deutscharbeit vorbereitet. „Was hat das mit Mathe zu tun?“, überlegte sie. Milena findet nur die beiden Zahlen, 3 und 2. Vielleicht kann sie damit etwas anfangen. „Wenn man in die Flaschen Kirschsaft füllt, verschwindet nichts“, stellte sie fest und begründete damit, warum sie nicht das Minuszeichen verwenden sollte. Und so rechnete sie: „3 plus 2. Das sind 5.“ Das schrieb sie übergroß an die Tafel und damit war für sie die Aufgabe erledigt. Zwei Zahlen, die nächstbeste Rechenoperation und ein Ergebnis. Das war Mathe für Milena. Den am Anfang dieses Artikels angesprochenen „Denk-Modus“ hatte sie offensichtlich nicht eingeschaltet und ich fühlte mich irgendwie herausgefordert das zu ändern.

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Es wäre ja möglich, dass Milena aufgrund einer differenzierten Sinneswahrnehmung oder durch Probleme mit der Aufmerksamkeit die Rechengeschichte nicht verstehen konnte. So versuchte ich mit ihr das in der Textaufgabe beschriebene Szenario zu visualisieren. Milena zeichnete 3 Flaschen an die Tafel, füllte sie mit roter Kreide aus und bewies damit, dass sie den Inhalt der Aufgabe richtig interpretierte. Für Milena verbarg sich in der Geschichte trotzdem nichts Rechenwürdiges, so dass sie den ersten Auftrag, nämlich eine Frage zu formulieren, nicht leisten konnte. Sie entlarvte zwar, dass die Zahl „3“ für die Anzahl der Flaschen stand, aber die Menge, die durch die „2“ repräsentiert wird, fand sie in ihrer Zeichnung bei bestem Willen nicht. „Die Zwei sind 2 Liter“, beschloss sie.

Ich führe bei meinen Therapien gerne „sokratische Dialoge“, was heißt, dass ich durch „naive“ Fragen mein Gegenüber dazu bringe die Sichtweise zu reflektieren, Widersprüche und Mängel zu erkennen und die alte, dysfunktionale Ansicht zu Gunsten der selbst- und eigenverantwortlich erstellten aufzugeben. – „Wo war nochmal die 3 in der Geschichte?“, fragte ich. „Na, da“, bekam ich zur Antwort, „die drei Flaschen“. „Und wo ist die zwei?“, fragte ich weiter. „Na, die zwei Liter!“, sagte Milena, und als ich kein zufriedenes Gesicht machte ergänzte sie: “Saft!“.

„Du erzählst mir also, du rechnest: ‚Drei Flaschen plus zwei Liter Saft‘?“ Mein Gesicht, das Unverständnis, gemischt mit ein wenig Verzweiflung zeigen sollte, kam bei Milena wohl nicht an. „Ja klar!“, sagte sie. „Und was sind dann die 5 da hinten?“, führte ich sie vermeintlich weiter auf die richtige Spur. „Das ist das Ergebnis“, belehrte sie mich. Meine spontane Bemerkung: „Das geht nicht“, parierte sie mit: „Doch – Drei Flaschen plus zwei Liter sind fünf“. „Ja, aber das Ergebnis muss doch irgendetwas sein. Fünf Äpfel vielleicht?“, ich fühlte mich in die Rolle meines früheren Grundschullehrers versetzt, der genau mit diesen Äpfeln immer das richtige Attribut herauskitzeln wollte. Milena bemerkte, dass etwas nicht stimmte und ich sah mich dem Ziel nahe. „Nein, keine Äpfel!“, sagte sie und ich atmete auf. – Zu früh, denn jetzt kam das unerwartete Ergebnis ihrer Analyse: “Fünf EURO kommt das raus“, sagte sie, „bei solchen Geschichten kommt immer Euro raus“, und schnell ergänzte sie noch: “Jetzt weiß ich auch die Frage: Wie viel kostet es? – Es kostet 5 EURO!“.

Man gibt es selber ja ungerne zu, aber meine Bemühungen waren aus dem Ruder gelaufen. Der Denk-Modus war zwar angesprungen, aber leider wenig mathematisch. Milenas operationales Verständnis, ihr Abstraktionsvermögen und ihre Fähigkeit, Szenarien zu visualisieren und in mathematische Terme zu übersetzen waren meilenweit davon entfernt, was die Autorin der Mathearbeit vorausgesetzt hatte und was ich eigentlich hoffte auf die Schnelle bei ihr zu aktivieren. Was war da schief gelaufen?

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Milena verstand es doch, wie von der Lehrerin gefordert, mathematische Ergebnisse zu den Basisoperationen schnell und sicher produzieren. Sie wusste auswendig, was 3+2 ist, und, hätte ich interveniert, hätte sie ihren Term, den sie zu der Rechengeschichte gefundenen hatte, flugs und ohne groß über die Sinnhaftigkeit nachzudenken, durch „3 x 2 = 6“ revidiert. Eins von beidem musste ja stimmen. Nur warum, das wusste sie nicht. Das ist ein passendes Beispiel dafür, dass nicht die Produktion von Ergebnissen der alleinige Kern der Mathematik ist, sondern dass man auch beherrschen sollte, die mathematischen Operationen mit realen Handlungen in Einklang zu bringen. Soweit war Milena noch nicht. Ungünstiger Weise wurde in der Textaufgabe dann auch noch der Menge „Zwei“ das Attribut „Liter“ zugedacht. Flüssigkeiten sind leider nicht visuell abzählbar. In ihrer Zeichnung konnte sie die „Zwei“ daher nicht finden. Auch das Ergebnis ihrer Rechnung, die „5“ ist in der Zeichnung natürlich nicht zu entdecken. Nicht einmal die „6“, die das richtige Ergebnis gewesen wäre, ist hier erkennbar. Dass dann Milenas Resultat verzweifelt in Euro ausfiel, ist der Tatsache geschuldet, das die bisher von Milena bearbeiteten Textaufgaben zu 90% in Euro resultierten und sie deshalb gute Erfahrungen damit gemacht hatte.

Um die Stunde für Milena mit einem Erfolgserlebnis zu beenden, modifizierte ich die Aufgabe leicht:

„Frank hat 3 Würfelbecher, in jeden Becher gibt er 2 Würfel.“

Hier war alles abzählbar und mit dem vorhandenen Material schnell nachgestellt: Milena ermittelte das Ergebnis problemlos:

„Wie viele Würfel hat Frank? 2 + 2 + 2 = 6 Würfel.“

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Ein lobenswerter Erfolg für Milena, auch wenn sie die Multiplikation 3×2 nicht aus der Aufgabe extrahieren konnte. Aber soweit waren wir in der Therapie ja auch noch nicht und Milena freute sich über ihre eigenständige gute Leistung.

Text und Bilder: Frank Haub

Wir freuen uns sehr, dass Frank Haub aus Remagen sich bereit erklärt hat, öfters aus seiner Praxis zu berichten. Wir haben Herrn Haub auf der Fachtagung des EÖDL kennengelernt, wo er einen Vortrag über “Effiziente Didaktik für das Symptomtraining dyskalkuler Kinder” hielt. Herr Haub ist Diplom-Informatiker und Diplomierter Dyskalkulietrainer. Er hat eine Praxis in Remagen, wo er dyskalkule Kinder unterstützt. Frank Haub bietet auch Vorträge zum Thema Dyskalkulie an sowie Fortbildungen für Lehrkräfte. Weitere Informationen finden Sie auf seiner Internetseite: www.dys-remagen.de

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